Vor 40 Jahren war Deutschrock in aller Munde und Ohren – dank BAP, Herbert Grönemeyer, Marius Müller-Westernhagen, Klaus Lage, Wolf Maahn, Ulla Meinecke, Udo Lindenberg und Heinz Rudolf Kunze. Diese Musiker wurden oft schlagartig erfolgreich und machten ihre Muttersprache als Rocksprache populär, womit sie sich endgültig vom Dogma der englischen Sprache lösten. In unserer zweiteiligen Titelgeschichte wollen wir, anknüpfend an unsere erste Story vom Dezember 2015, zunächst den Fokus auf das Jahr 1984 legen, in dem der Deutschrock geradezu explodierte. Wir schauen auf das politische Engagement der Musiker sowie die unterschätzte Rolle der Frauen im Deutschrock. Dafür haben wir exklusiv mit zahlreichen Protagonisten der Ära gesprochen, darunter Wolfgang Niedecken, Wolf Maahn, Reinhold Heil und Lindenberg-Schlagzeuger Bertram Engel.
Die Behauptung, der Deutschrock sei aus dem Nichts gekommen, ist angesichts der zahlreichen musikalischen Quellen, denen das Genre in der ersten Hälfte der 80er Jahre entsprang, etwas übertrieben. Und doch kristallisierte sich plötzlich eine große Gruppe deutschsprachiger Musiker heraus, die anglo-amerikanisch geprägte Rockmusik – mit Betonung auf „Rock“ – mit intelligenten, nicht selten sozialkritischen Texten paarten und damit zunehmend erfolgreich wurden.
Deutsche Sprache und musikalischer Zeitgeist
„Als die Neue Deutsche Welle plötzlich abstürzte, war über Nacht das Phänomen Deutschrock da“, erinnert sich Heinz Rudolf Kunze. „Bei den Frauen waren es Ulla Meinecke und Ina Deter, bei den Männern neben mir auch Grönemeyer, BAP, Klaus Lage, Herwig Mitteregger, Purple Schulz, usw. Es war wie eine plötzliche, zweite Woge nach der NDW, so habe ich das damals wahrgenommen.“ Aber war es nur das? Lauscht man den von Kunze erwähnten Acts, so fällt auf, dass sie ihren Rock damals mit frischen Sounds garnierten, zu denen sie u.a. von der NDW inspiriert worden waren. Selbst ein Udo Lindenberg konnte erstmals Charthits verbuchen („Sonderzug nach Pankow“ drang bis auf Platz 5 vor), nachdem er Anfang der 80er seinen Sound angepasst hatte (siehe Kasten). Das war alles Rock, klar, aber mit einem gehörigen Schuss musikalischem Zeitgeist.
Dass im Mittelpunkt aber die deutsche Sprache stand, betont auch Wolfgang Niedecken, der mit BAP seit Anfang der 80er riesige Erfolge feiern konnte (siehe Kasten): „Ich glaube, die Hochphase war wahrscheinlich genau zur Zeit unseres Durchbruchs, 81/82. Plötzlich war wieder die Aufmerksamkeit für deutsch gesungenes Liedgut da. Man hat hingehört. Da wärst du vielleicht drei Jahre vorher noch vor die Pumpe gelaufen.“
In den 70er Jahren gab es allerdings nur wenige Vertreter einer originären deutschsprachigen Rockmusik: zunächst nur Ton Steine Scherben und Ihre Kinder, dann Udo Lindenberg, der mit seinen lässig-schnoddrigen Texten als einsamer Rufer in der Wüste galt, dem wiederum Szenebands wie Franz K oder Gäa, später auch Acts wie Herne 3 oder die Dschungelband folgten. Auch der progressive Krautrock der 70er Jahre trug nicht gerade zu einer Deutschrock-Welle bei, denn hierbei handelte es sich um ein Phänomen, das entweder ohne Texte auskam (Tangerine Dream), sich sehr avantgardistisch ausdrückte (Can) oder textlich sehr reduziert angelegt war (Kraftwerk). Andere regten romantischen Eskapismus an (Novalis), fröntem dem Dialekt (Schwoißfuaß, Rogdau Monotones, Grachmusikopff). Aus Österreich kamen wichtige Impulse beispielsweise von Wolfgang Ambros und Georg Danzer. Viele hiesige Bands bevorzugten wegen der passenderen Metrik immer noch die englische Sprache (Birth Control, Jane). Die Schwierigkeit, eine Musik, die sich von ihren angloamerikanischen Vorbildern nährte, ins Deutsche zu übertragen, sah auch Wolf Maahn, einer der zentralen Protagonisten des Deutschrock: „Das Problem war, diese Sprache zum Grooven zu bringen. Ich kannte Gesang auf Deutsch fast nur bei Schlagern. Meine Muttersprache war am Anfang für mich super gewöhnungsbedürftig. Oft habe ich stundenlang über deutschen Texten gebrütet und diese beim Einsingen wieder geändert, weil irgendwas hakte oder wieder viel zu lang war.“