Polly Harvey hat ein Album über ihre Kindheit aufgenommen, das viele Elemente des Filmgenres Folk Horror in sich trägt (siehe Kasten), weil es über eine Schwellenerfahrung berichtet, die eine Verbindung zwischen dem Verlust der kindlichen Unschuld und der verlorenen Bindung zur Natur herstellt. Hierbei steht sie durchaus in der Tradition ihrer letzten Werke, vor allem bezüglich des Rekurses auf den Mythos vom alten, verlorenen Albion, der auf ihrem Meisterwerk „Let England Shake“ im Mittelpunkt steht. Wurde das mythische Bild jenes sagenumwobenen Britanniens dort noch in den zeitgenössischen Brexit-Diskurs eingewoben, so verlagert sich das neue Album vollständig ins Subjektive, Innere, Private.
Den Weg in die Öffentlichkeit ist Harvey mit dem Vorgänger „The Hope Six Demolition Project“ gegangen, das sie in Form einer begehbaren Museumsinstallation eingeprobt hatte. Für die Songs und den begleitenden Gedicht-/Fotoband „The Hollow Of The Hand“ war sie in den Kosovo und in die Slums von Washington, D.C. gereist, und in den Liedern kontrastiert sie beide Erfahrungen, die sie als sich gegenseitig ergänzende Kriegsnarrative beschreibt. Das Ergebnis sei nämlich das Gleiche gewesen: Zerstörung und menschliches Leid. „Es geht allerdings auch viel um Positives und Liebe“, erzählt sie, einen Bogen zu ihrem neuen Album schlagend. „Das muss man aber auch aus der anderen Perspektive betrachten. Erst dann ist es wirklich eine Erkundung dessen, wie es sich anfühlt, am Leben zu sein.“
Das Album wurde dann live in einem einzelnen Raum aufgenommen, die Songs entstanden aus gemeinsamen Improvisationen der Musiker, die sich langsam zu etwas Organischem formten. Dabei spielte auch der Gesang eine entscheidende Rolle. Harvey beschreibt den Vorgang als „eine besondere Art, meine Stimme zu projizieren. Flood würde mich sofort stoppen, wenn er mich so singen hörte, wie ich vorher sang, und mir helfen, emotionale Wege zu einer anderen Stimme zu finden.“ Thematisch geht es in den Songs vor allem um die Schwelle zum Erwachsenwerden. Denn wenn es auf „I Inside The Old Year Dying“ ein gemeinsames fassbares Thema jenseits der Folk-Horror-Ästhetik gibt, dann jenes, das eben genau jene Ästhetik auch speist: das Schwellenerlebnis. „Kindheit und Erwachsenenwelt, das Zuhause und der Wald, der Tag und die Nacht, Traum und Erwachen, das Natürliche und das vom Menschen Gemachte, und jener Moment, in dem die eine Jahreszeit die andere ablöst“, wie es Paterson es in einem kurzen Essay zur Platte treffend beschreibt. Gleichzeitig umweht die Songs eine unheimliche Atmosphäre, welche die Künstlerin mithilfe des Einsatzes von Hintergrundgeräuschen verstärkt, die sie entweder selbst aufnahm oder aus einem Soundarchiv bekam. „Ich fragte dort etwa: ‚Kann ich den Wind haben, der im November durch einen Stacheldrahtzaun bläst?‘ Und sie sagten: ‚Ja, hier, bitte sehr!‘“