STEVEN WILSON - Grenzgänger und Grenzensprenger

10. Oktober 2023

Steven Wilson Porcupine Tree

STEVEN WILSON - Grenzgänger und Grenzensprenger

Am liebsten hätte Steven Wilson einen musikalischen Diplomatenpass – einen Blankoschein, tun zu können, was immer er will, ohne sich um Genres zu scheren. Diesem Ansatz folgt auch sein siebtes Studiosolowerk „The Harmony Codex“. Der Brite selbst bezeichnet es als „definitives Steven-WilsonAlbum“, weil es all das beinhalte, was ihn über die Jahrzehnte musikalisch ausgezeichnet habe. Da zu dem, was ihn als Menschen und Musiker ausmacht, Porcupine Tree und Pink Floyd ebenso gehören wie die Beschäftigung mit grundlegenden Fragen oder aktuellen gesellschaftlichen Problemen, kommt all dies auch in den Interviews zur Sprache, die unsere Autoren Marcel Anders und Bernd Sievers mit ihm geführt haben.

Es ist ein bisschen so, als wäre der bleiche Brite ständig auf der Flucht – vor sich, den Kritikern und den Fans. Schließlich macht Steven Wilson seit 15 Jahren stets das, was man am wenigsten von ihm erwartet: Er spielt mit den Genres und dem Instrumentarium, schlägt wilde Haken und lässt sich partout nicht vereinnahmen. Das treibt ihn an – selbst wenn er kurz nach dem Tourfinale von Porcupine Tree im Schwetzinger Schlossgarten etwas müde wirkt. „Es war der tolle Abschluss einer tollen Reunion“, setzt er an. „Trotzdem sieht jeder in der Band das als einmalige Angelegenheit. Aber wie heißt es so schön: Man sollte nie ‚nie‘ sagen. Es ist durchaus möglich, dass wir uns eines Tages wieder zusammenfinden und das noch einmal machen. Jetzt will ich mich erst mal als Solokünstler weiterentwickeln.“

Genauer gesagt: mit „The Harmony Codex“, das für viele eingefleischte PT-Fans ein ähnlicher Euphoriedämpfer sein dürfte wie der Vorgänger „The Future Bites“ von 2021. Auch wenn der Künstler auf etwas mehr Offenheit spekuliert: „Ich hoffe inständig, dass ‚Closure/Continuation‘ es ein bisschen leichter für mein neues Soloalbum macht, denn all die Leute, die mich am liebsten auf Porcupine Tree reduzieren würden, haben gerade erst ein Zugeständnis von mir bekommen. Deshalb können sie mir nicht mehr vorwerfen, ich würde sie vernachlässigen“, lacht Wilson. Seine aktuelle Taktik erinnert indessen an ein Trojanisches Pferd: „Die Ironie von ‚The Harmony Codex‘ ist, dass es ein viel konzeptuelleres und experimentelleres Album ist als ‚Closure/Continuation‘. Ich denke, alle, denen ‚The Future Bites‘ zu poppig war, werden hier mehr von dem finden, was sie eigentlich von mir erwarten. Insofern: Vielleicht gefällt es den Leuten ja besser.“

Cineastische Grenzgänge

Grundlage des Albums ist eine Kurzgeschichte aus Wilsons 2022 veröffentlichter Autobiografie „Limited Edition Of One“, die sich am besten als dystopische Science-Fiction beschreiben lässt und die er nun in Songs umgesetzt hat, „weil die Story sehr inspirierend war – also die Bildsprache und einige der Charaktere. Das hat mich auf einen Kurs geschickt, der konzeptuell und vielschichtig ist, in dem Sinne, dass es ein eklektisches Album ist. Und was ich heute am spannendsten finde, sind halt Songs, die außerhalb irgendeines Genres stehen.“

Die inszeniert Wilson mit langen Instrumentalpassagen, minimalistischen Texten und einer imposanten Palette an Klangfarben. Oder wie er es formuliert: „Jeder Song ist wie die Szene eines Films. In einer sind die Charaktere glücklich, dann passiert etwas Tragisches, und die Stimmung kippt. Diese Idee der cineastischen Aneinanderreihung hat mich schon als Kind fasziniert, als ich die Alben meines Vaters gehört habe: ‚The Dark Side Of The Moon‘ oder ‚Tubular Bells‘. Das war eine Aneinanderreihung von Bildern, Charakteren und Stimmungen, und sie haben einen erzählenden Fluss ergeben, vielleicht nicht textlich, aber musikalisch – weshalb die Alben, die mich ansprechen, auch einen Schritt weitergehen und nicht nur eine Sache sein wollen, sondern Grenzen sprengen.“

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