Das fünfte Studioalbum von Genesis wird in diesem Jahr ein halbes Jahrhundert alt. Zu seinem 40. Geburtstag hatte eclipsed ausführlich die Entstehungsgeschichte nachgezeichnet. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Veröffentlichung von „Selling England By The Pound“ tauchen wir noch etwas tiefer in die Materie ein und beschäftigen uns mit der Frage, inwieweit das Großwerk tatsächlich ein sozialkritisches Album ist. In diesem Zusammenhang werfen wir, nicht zuletzt unterstützt von Steve Hackett, mit dem wir ein exklusives Interview führten, auch einen weiteren Blick auf die Beziehung zwischen Progrock und Politik. Darüber hinaus blicken wir über den großen Teich, um zu ergründen, wie es der urbritischen Band in Nordamerika erging. Dies war auch Thema eines Gesprächs mit Sébastien Lamothe von der renommierten kanadischen Genesis-Tribute-Formation The Musical Box.
Prog ist gleichbedeutend mit Eskapismus – so lautet das zum Klischee gewordene Vorurteil gegenüber der progressiven Musik der 1970er-Jahre, in der es laut den gängigen Vorwürfen ihrer nicht wenigen Kritiker vornehmlich um von Zwergen, Feen und Elfen bevölkerte Traumwelten gehe. Zwar muss man bei den Großen des Genres ziemlich lange suchen, um in dieser Hinsicht fündig zu werden, doch dieses nicht zuletzt vom markanten Artwork eines Roger Dean oder Paul Whitehead geprägte Stereotyp haftet dem klassischen Prog bis heute an.
Bei näherer Betrachtung der Veröffentlichungen aus der großen Zeit des Prog Anfang der 70er-Jahre stellt sich die Sache freilich deutlich vielfältiger dar: Peter Hammill stellte mit Van der Graaf Generator philosophische Fragen über die Endlichkeit und Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz, gern verpackt in die damals im Zuge von Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ beliebte Weltallmetaphorik. King Crimsons Texter Peter Sinfield verwendete zwar blumige Worte, grub aber tief in der Menschheitsgeschichte. Er konstruierte dabei zunächst eine okkulte, kaum zu durchdringende Parallelwelt, wurde aber im Laufe der vier Alben, an denen er mitwirkte, immer klarer in seinen Bezügen zur gesellschaftspolitischen Realität. Jethro Tull entdeckten trotz ihres gezielt „mittelalterlichen“ Images die Elfen, Wald- und Meeresgeister eher spät auf Alben wie „Songs From The Wood“ (1977) oder „The Broadsword And The Beast“ (1982) für sich, während ihre klassischen Werke von „Aqualung“ bis „Warchild“ allesamt gesellschaftskritische Statements waren.
Natürlich gab es auch Ausnahmen: Jon Anderson schwebte textlich in abgelegenen geistigen Sphären, in die er 1973 mit dem Meilenstein des eskapistischen Prog, „Tales From Topographic Oceans“, vollends abdriftete. Die Artrocker Pink Floyd dagegen verabschiedeten sich unter dem wachsenden Einfluss von Roger Waters als Songtexter im selben Jahr mit „The Dark Side Of The Moon“ endgültig von ihrer psychedelischen Vergangenheit und wurden zur politischen Band, die in der Folge Alben wie „Animals“ oder „The Final Cut“ einspielte (wobei es auch vorher schon das eine oder andere gesellschaftskritische Stück aus Waters’ Feder gegeben hatte). Wie sah es aber bei Genesis aus, der wohl größten Band des klassischen Prog?
Das Image: Zwischen Traditionsbewusstsein und Sozialkritik
„Wir haben bisher immer Spaß daran gehabt, Geschichten über Dinge zu erzählen, von denen wir keine Ahnung haben. Fantasie macht uns an!“, erzählte Peter Gabriel 1973 dem „Melody Maker“, als mit der Veröffentlichung des Albums „Selling England By The Pound“ plötzlich eine neue Ernsthaftigkeit und intensivere soziopolitische Reflexion in die Texte der Band Einzug hielt.
Die skurrilen Texte des Sängers außer Acht gelassen, verband sich das Genesis-Image der Gabriel-Jahre zunächst einmal stark mit drei Dingen: Einerseits waren da die klassisch angehauchten Arrangements, die vom filigranen Spiel vor allem Steve Hacketts und Tony Banks geprägt waren und auf musikalische Themen aus Barock, Renaissance und alten Volksweisen rekurrierten. Dazu kam das Spiel mit Masken und Kostümen, das Gabriel auf der Bühne veranstaltete und das viel mehr von einer klassischen Theateraufführung als einer typischen Rockshow hatte – man denke nur an das rote Kleid kombiniert mit der Fuchsmaske, die Blumenmaskerade oder das Kostüm des „Slipperman“. „Irgendwann gab es zu viel Theater und zu wenig Raum für die Musik“, begründete der eher bodenständige Phil Collins in den 70er-Jahren die Trennung von Sänger und Band.
Vor allem aber konnte in jener Goldenen Ära der Rockmusik das Cover eines Albums die Richtung der ästhetischen Rezeption entscheidend beeinflussen. Im Fall von Genesis spielte hier der Künstler Paul Whitehead eine bedeutende Rolle (der auch für die seinerzeit ebenfalls bei Charisma unter Vertrag stehenden Van der Graaf Generator tätig war). Seine ins Dunkel-Surreale gekehrten, märchenhaften Motive auf den Covers der Alben „Trespass“, „Nursery Cryme“ und „Foxtrot“ prägten das Image der Band nachhaltig, nicht zuletzt, weil sich ein eindeutiger inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Bildern und Gabriels Texten ausmachen ließ ...